Die Rolle der Intuition im europäischen Fischereimanagement
03.03.2022
Die Politik nutzt immer häufiger wissenschaftliche Gutachten. Wenn viel auf dem Spiel steht, der Zeitdruck groß ist und Unsicherheit herrscht, lassen sich Expertinnen und Experten allerdings manchmal stärker von ihrer Intuition leiten als von Wissen. Eine neue Studie zeigt, dass intuitive Urteile einen erheblichen Einfluss auf politische Entscheidungen haben können – zum Beispiel bei der Festlegung von Fangquoten für Fisch. Das müsse nicht von Nachteil sein, mehr Transparenz sei allerdings wünschenswert.
Der sogenannte Ankereffekt – die Tendenz, früheren Informationen zu viel Gewicht beizumessen – ist eine der häufig anzutreffenden kognitiven Verzerrungen. Expertinnen und Experten sind besonders anfällig den Ankereffekt, wenn neuere Ergebnisse nicht mit früheren Einschätzungen zu vereinbaren sind. Ein Bereich, in dem dies eine erhebliche Rolle spielt, ist die Bewertung von Fischbeständen.
Urteilsvermögen von Experten unabdingbar
Jedes Jahr veröffentlicht der Internationale Rat für Meeresforschung einen wissenschaftlichen Ratschlag zum Zustand der Fischbestände im Nordostatlantik und schlägt der EU nachhaltige Fangquoten für das folgende Jahr vor. Die Gutachten beruhen auf den Ergebnissen von Computermodellen, die von Fischereiwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern analysiert werden. Die Bewertung wird von Arbeitsgruppen bei jährlichen Treffen vorgenommen.
„Allerdings gibt es große Unsicherheiten in Bezug auf die Menge, die Verteilung und die Wachstumsrate der Fischbestände. Die Rechenmodelle sind zwar vorgegeben, aber deren Parameter – etwa die natürliche Sterblichkeitsrate oder klimawandelbedingte Veränderungen der Ökosysteme – müssen angemessen gewichtet werden. Dafür ist das Urteilsvermögen von Experten unabdingbar“, erläutert Studienautorin Esther Schuch (IASS/Universität Wageningen).
Die Forschenden untersuchten eine Datenbank zu Fischbeständen und fanden Belege dafür, dass intuitive Urteile eine bedeutsame Rolle spielen. Der Ankereffekt war dort am stärksten, wo die Gutachterinnen und Gutachter bei der Modellierungsarbeit flexibel sein konnten und sich zudem der Fischbestand in einer Krise befand. Offenbar, so die Forschenden, sind die Gutachter in diesem Fall besonders risikoscheu und orientieren sich deshalb stärker an existierenden Daten als bei Fischarten, die nicht gefährdet sind.
Bewusstsein für die „menschliche Komponente“ schärfen
Natürlich berücksichtige jede regelmäßige Bewertung frühere Kenntnisse, sagt Esther Schuch. Das sei grundsätzlich vernünftig, könne allerdings auch dazu führen, dass unwahrscheinliche und unplausible Daten zurückgewiesen werden, die tatsächlich sofortige Aufmerksamkeit erfordern würden. „Wir wissen, dass intuitive Expertenurteile durchaus zu besseren Ratschlägen führen können. Hierfür ist es jedoch notwendig, dass in den Modellschätzungen Signale vorhanden sind und auch als solche gedeutet werden. So gilt es kritisch zu hinterfragen, ob eine Zahl wirklich nur ein Ausreißer ist, den es zu korrigieren gilt, oder ob sich etwas Grundlegendes geändert hat.“
Fischerei-Forschende befassen sich vor allem mit technischen und naturwissenschaftlichen Unsicherheiten. Es sei notwendig, ihr Bewusstsein für die „menschliche Komponente“ ihres Urteilsprozesses zu schärfen, so die Studienautoren. Gleichzeitig sollten politische Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit ein Umfeld schaffen, in welchem Fachleute ihre Prognosen ändern können, ohne dass ihre Reputation leidet.
Schuch, E., Richter, A. (2022 online): Tracing intuitive judgement of experts in fish stock assessment data. - Fish and Fisheries. https://doi.org/10.1111/faf.12646