Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam

Wunsch nach Kontinuität im Wandel

01.10.2021

Matthias Tang

Matthias Tang

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Rot, gelb, grün: Die wahrscheinlichste Regierungskonstellation ist die Ampelkoalition.
Rot, gelb, grün: Die wahrscheinlichste Regierungskonstellation ist die Ampelkoalition.

Der Erfolg der SPD bei den Bundestagwahlen ist eine Überraschung, auch wenn die Umfragen in den Wochen und Tagen vor der Wahl diesen Trend vorausgesagt haben. Noch im Juli lag die SPD bei infratest-dimap und der Forschungsgruppe Wahlen bei 15 bis 16 Prozent und alle rechneten mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der Union und Bündnis 90/Die Grünen. Allein, es kam anders, und nun steht die Sozialdemokratie als Sieger da, obwohl die SPD mit 25 Prozent von den Ergebnissen früherer SPD-Kanzler weit entfernt ist.

Gründe für das Comeback der SPD waren schnell gefunden: Die Fehler der Anderen. Und tatsächlich haben das Stolpern der Bündnisgrünen zu Beginn des Wahlkampfes und der bis zum Schluss holprige Auftritt der Union der SPD in die Hände gespielt. Aber es greift zu kurz, in Olaf Scholz nur einen Profiteur dieser Fehler zu sehen.

Ein weiterer, wichtigerer Baustein des Erfolges war Scholz‘ bodenständige, solide, aber wenig bis gar nicht charismatische Art, über die noch vor wenigen Monaten so manche Häme ausgekippt wurde. Scholz zeigte sich als so etwas wie eine männliche Version von Angela Merkel plus sozialer Gerechtigkeit.

Dass Scholz und mit ihm die SPD damit Erfolg hatten, liegt auch an der deutschen Sehnsucht nach Stabilität und Kontinuität. Pandemie und die immer greifbarere Klimakrise führen zwar dazu, dass die Notwendigkeit einer ökologischen Transformation im Gefühlshaushalt vieler Menschen angekommen ist. Das Klima war für die Mehrheit das wichtigste Thema bei dieser Wahl – das gab es noch nie. Die prinzipielle Veränderungsbereitschaft in der Bevölkerung angesichts des Klimawandels ist vorhanden, aber nicht zuletzt die Coronakrise hat gezeigt, dass diese Bereitschaft auch ihre Grenzen hat – im weltweiten Vergleich ist der Wunsch nach einer Rückkehr zur alten Normalität in der Bundesrepublik am größten.

Olaf Scholz war so etwas wie die Inkarnation dieser Mischung aus erwünschtem Wandel und erhoffter Kontinuität. Annalena Baerbock stand für Veränderung, sie wurde nicht müde, einen Aufbruch einzufordern. Armin Laschet, der im Angesicht der Flutkatastrophe meinte, wegen eines solchen Tages verändere man die Politik nicht, stand für das „Weiter so“.

Klimapolitik und Koalitionsbildung

Die wahrscheinlichste Regierungskonstellation ist die Ampelkoalition. Es wird politisch schwer durchzuhalten sein, den Wahlverlierer oder seine Partei zum Kanzler zu machen. So oder so läuft es auf eine Dreier-Koalition hinaus, die quer zu den althergebrachten politischen Lagern Schwarz-Gelb und Rot-Grün verläuft.

Was heißt das für die Klimapolitik? Beim Ziel der Klimaneutralität 2040 bis 2045 sind sich alle Parteien (außer der AfD) einig – über den Weg dahin gibt es prinzipiell unterschiedliche Vorstellungen. Wenn es darum geht, welche Rolle der Staat beim Kampf gegen die Klimakrise spielen soll, bildet für die FDP und die Union der freie Markt den entscheidenden Hebel, um die technologischen Innovationen hervorzubringen, die zur Klimaneutralität führen. Bündnisgrüne und SPD halten ordnungspolitische Regulierung für notwendig, um die Marktkräfte in die gewünschte Richtung zu lenken.

Aber dieser Gegensatz ist keine unüberwindbare Hürde für Dreier-Konstellationen jenseits der alten politischen Lager, denn deren Grenzen verschwimmen. So fordern Bündnis 90/Die Grünen, die Schuldenbremse um eine Investitionsregel zu erweitern, um Investitionen in die Infrastruktur zu finanzieren. Hingegen wollen SPD und FDP an der Schuldenbremse festhalten. SPD und Bündnisgrüne wollen die Steuern für sehr hohe Einkommen erhöhen, Liberale lehnen Steuererhöhungen nicht nur ab, sondern fordern sogar Steuersenkungen.

Bündnis 90/Die Grünen wollen nach 2030 keine neuen Verbrennungsmotoren mehr zulassen, die FDP lehnt das ab und fordert, dass der Markt über die Technologie entscheiden müsse. Im realen Leben hat der Markt längst entschieden und die Automobilindustrie die Weichen für den Elektromotor gestellt. Ein Verbot des Verbrenners fürchtet sie nicht mehr. Bei der Zukunft der Deutschen Bahn wollen Bündnis 90/Die Grünen die Infrastruktur in öffentlicher Trägerschaft betreiben, auszubauen und vom Betrieb trennen – was die FDP ähnlich sieht. Die SPD wird hier auf Seiten der Gewerkschaften stehen, die diese Trennung ablehnen. Beim Ausbau der erneuerbaren Energien oder einer CO2-Bepreisung gibt es zwar Unterschiede im Detail, aber die Zielrichtung ist unstrittig.

Die Ampelkoalition steht und fällt daher weniger mit den inhaltlichen Positionen, sondern mehr mit dem Willen der handelnden Parteien und Personen, dieses Bündnis einzugehen, und mit ihrem politischen Geschick, für alle Seiten gesichtswahrende Kompromisse zu schließen und diese an ihre jeweilige Parteibasis zu vermitteln.

Klimapolitik und Regierungshandeln

Die eigentliche Herausforderung beginnt nach der Vereidigung des Kanzlers und der Ministerinnen und Minister. Die gefundenen Kompromisse zum Erreichen der Klimaziele müssen umgesetzt werden und zu systemischen Veränderungen der Industrie, der Mobilität, des Energiesystems, der Landwirtschaft etc. führen. Arbeitsplätze in fossilen Industrien werden verschwinden, neue bei erneuerbaren Energien entstehen. In den Braunkohlerevieren ist diese Transformation schon lange im Gange, in der Automobilindustrie steht sie bevor und wird Arbeitsplätze kosten. Diese Transformationen werden sich zwangsläufig auf den Alltag der Menschen auswirken. Unsere Mobilitäts- und Ernährungsgewohnheiten werden sich ändern, was keine Verschlechterung bedeuten muss.

Im Wahlkampf haben jedoch die Narrative aller Parteien – mal mehr, mal weniger – den Eindruck erweckt, als wäre Klimaschutz eine Sache, die fernab der Lebensrealität der Bürgerinnen und Bürger stattfindet. Die FDP versprach, technologische Innovationen allein wären die Lösung, Olaf Scholz beschränkte seine Klimaerzählung darauf, der Industrie mehr erneuerbare Energien bereitstellen zu wollen, und selbst die Bündnisgrünen – Veggie-Day-geschädigt – vermieden es tunlichst, die Auswirkungen auf die alltägliche Lebensrealität zu thematisieren.

So verständlich es ist, im Wahlkampf auf Narrative zu setzen, die Kontinuität trotz Wandel versprechen, so sehr kann sich das rächen. Weitet man den Blick, so wird klar, dass die Klimakrise, der Verlust an Biodiversität und die global ungerechte Verteilung des Wohlstandes zu einer tiefgreifenden Transformation führen müssen. Sicherlich ist es richtig, die dafür notwendigen systemischen Veränderungen in den Mittelpunkt zu stellen. Aber zum System gehören immer auch Menschen, die von diesen Veränderungen betroffen sind. Systeme verändern sich auch durch die Menschen, die sie ausfüllen, ihre Beziehungen, Wertvorstellungen und Gewohnheiten. Ohne ihre Beteiligung wird die Transformation nicht gelingen.

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