Strukturwandel in der Lausitz: Blühende Landschaften reloaded?
12.03.2019
Ärmel hochkrempeln, Chancen sehen, die Zukunft bei den Hörnern packen! Ist das nicht der Weg, den Strukturwandel in der Lausitz zu bewältigen? Ohne diese optimistische Einstellung, die politisch präsentiert wird, kann es nicht gehen. Aber ohne ein Verständnis für Erfahrungen der Bürger und Institutionen in der Region auch nicht. Gerade wir als Wissenschaftler*innen, denen Nachhaltigkeit ein Anliegen ist, müssen uns mit den sozialen Gegebenheiten beschäftigen, auf deren Grundlage bzw. durch deren Weiterentwicklung ressourcenschonendes Leben und Wirtschaften möglich wird.
Die Kommission für „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ empfahl jüngst der Bundesregierung, den Ausstieg aus der Kohleförderung bis 2038 umzusetzen und dabei erhebliche Mittel zur Bewältigung des Strukturwandels in die betroffenen Regionen zu geben. Eine davon ist die Lausitz, in der heute 8.000 Menschen direkt und weitere 14.000 indirekt in der Kohleförderung und -verstromung arbeiten. Strukturwandel meint, dass es fundamentale Veränderungen geben wird, wenn einer der zentralen Knoten des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Miteinanders gelöst wird. Dieser Knoten ist die Kohle.
Und nun könnte die Erzählung beginnen, wie Kommunen, Länder und Bundesregierung zusammen mit Unternehmen, Vereinen und Bürgern die besten Konzepte abwägen und einer CO2-freien, nachhaltigen und lebensbejahenden Zukunft entgegenstreben. Stattdessen brechen Konflikte auf, weil Erfahrungen aktiviert werden, die Geschichten haben und miteinander in Verbindung stehen. Sie drehen sich immer wieder um Fragen von Identität und Gerechtigkeit, die im Angesicht einer erneuten Umbruchssituation virulent werden. Wenige dieser Konflikte sind spezifisch für die Lausitz, aber in ihrer Verknüpfung ergibt sich eine spezifische Lausitzer Gemengelage.
In der Lausitz wird seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Kohle gefördert. Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts schlossen Unternehmen mehr und mehr Bergwerke und Tagebaue auf, um den steigenden Energiebedarf der wachsenden Kommunen und der Industrie zu decken. Industrielle Arbeit wurde zum prägenden Rhythmus aller Lebensbereiche für fast die gesamte Bevölkerung. Das Lausitzer Revier versorgte mit der Energie aus der Braunkohle die gesamte DDR. Neben der Energieerzeugung wurden zahlreiche Industrien (u.a. Glas, Textil, Maschinenbau) angesiedelt, die wiederum viele Arbeitskräfte in die Region holten. Mit der Einführung der D-Mark und der Marktwirtschaft im Zuge der deutschen Wiedervereinigung gerieten alle ehemaligen Kombinate unter Druck und mussten größtenteils schließen. Zehntausende Arbeiter verloren binnen weniger Jahre ersatzlos ihre Arbeit. Der individuelle und kollektive Rhythmus ging verloren.
Über Jahrhunderte wanderten Menschen in die Lausitz und verließen sie wieder. Am längsten leben die Sorben in der Lausitz, die heute eine anerkannte Minderheit sind. Die Industriepolitik der DDR löste einen bis dato ungekannten Zuzug in die Lausitz aus. Städte wie Weißwasser oder Hoyerswerda vervielfachten ihre Einwohnerzahlen, große Plattenbausiedlungen entstanden in der Nähe der Betriebe. Mit dem Ende dieser Industrien folgte in den 1990er Jahren die Abwanderung tausender Menschen in große Städte und vor allem in „den Westen“, darunter ein Großteil der jungen Leute und besonders Frauen. Diese Erfahrung von (un)freiwilligem Gehen und Bleiben ist tief in die individuellen und kollektiven Erinnerungen eingewebt, auch wenn sich die Bevölkerungsentwicklung in den letzten Jahren vielerorts stabilisiert hat. Das Gehen und das Bleiben sind Überlebensstrategien geworden.
Die Lausitz ist eine Region zwischen den Metropolen Dresden, Leipzig, Berlin und Breslau. Diese ziehen das Gros des Kapitals, der Menschen, der Ideen und der Aufmerksamkeit an. Die meisten fahren durch die Lausitz hindurch, wenn sie nicht gerade touristische oder familiäre Anliegen haben. Es ist keine Überraschung, dass die Debatte um den Wolf so leidenschaftlich geführt wird, da dessen Rückkehr symbolischer für die periphere Lage der Lausitz nicht sein könnte. Die Lausitz ist über Jahrzehnte auch in der Öffentlichkeit kaum – und wenn, dann nur negativ – vorgekommen. Die Bundesregierung und die Länder Brandenburg und Sachsen kamen ebenso auf wenig mehr Ideen zur Entwicklung der Lausitz als Kreisgebietsreformen, Fahrradwege, Umgehungsstraßen und die Umwandlung der Bergbaufolgelandschaften in eine Seenlandschaft.
Die Erfahrungen der heute über eine Million Lausitzer sind vielfältiger und positiver als Arbeitsplatzverlust, Abwanderung und ländliche Peripherie. Sie sind ebenso wenig gefangen in individueller oder kollektiver Unwirksamkeit, wofür die vielen Unternehmen, Kultureinrichtungen, Initiativen und Festivals stehen. Aber zum Strukturwandel gehört zu erkennen, welche Strukturen wirksam sind. Und diese sind in der Lausitz seit Jahrzehnten dadurch gekennzeichnet, dass die Handlungsspielräume von Individuen, Kommunen und Landkreisen in höchstem Maße konditioniert werden durch staatliches und wirtschaftliches Handeln.
Anfang der 1990er Jahre waren die Hoffnungen groß. Sie basierten auf der Annahme, dass die nun verfügbaren Freiheiten nicht nur den Wohlstand erhöhen, sondern auch die individuellen Handlungsspielräume vergrößern würden. Das Gegenteil war jedoch der Fall. Die gleichzeitigen, rasanten und bruchhaften Veränderungen aller Lebensbereiche wirken als individuelle und kollektive Erfahrungen eines materiellen und eines Identitätsverlusts bis heute nach. Sie nähren die Skepsis gegenüber den konkreten Vorschlägen der Kommission für „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ und der prinzipiellen Handlungsfähigkeit der politischen und administrativen Akteure. Selbst jene, denen Klimaschutz ein Anliegen ist, sehen den politisch gewollten Ausstieg aus der Kohleförderung als nicht selbstgewählten Eingriff in eine stabilisierende Struktur, der die Identität und die ökonomische Grundlage der Region bedroht.
Der Ausstieg aus der Kohle ist ein Schritt auf dem Weg in das nachfossile Zeitalter im 21. Jahrhundert, der wahrscheinlich nicht mit den Instrumenten des 20. Jahrhunderts (Infrastrukturinvestitionen, Behördenansiedlung etc.) funktionieren wird. Jedenfalls ist die Bereitschaft, in diese Ansätze Hoffnung zu setzen, wesentlich geringer ausgeprägt als Anfang der 1990er Jahre. Als Wissenschaftler*innen ist es daher im Projekt „Sozialer Strukturwandel und responsive Politikberatung in der Lausitz“ unsere Aufgabe, die sozialen Dispositionen und ihre Wirkungen zu identifizieren und gleichzeitig im Sinne eines transformativen Ansatzes, Handlungsoptionen zu bewerten und Akteure durchaus kritisch zu begleiten.